Raunacht: Ein Orbit außerhalb der Zeit

Raunacht: Ein Orbit außerhalb der Zeit
Raunacht: Ein Orbit außerhalb der Zeit

Die Raunächte sind seit jeher mythisch, denn die Tage zwischen Weihnachten und Neujahr umgibt ein Zauber. Sie gelten als verlorene Tage, Tage außerhalb der Zeit, in denen Geister ihr Unwesen treiben und man besonders vorsichtig sein muss.

Ursprünglich wurde die Zeit in Mondjahren gerechnet. Daher hatte das Jahr 354 Tage. Um aber auf die 365 Tage des Sonnenjahres zu kommen, wurden die fehlenden Tage eingeschoben. Diese Tage werden meist vom 25. Dezember bis zum 6. Januar gezählt. Sie werden als tote Tage bezeichnet, in denen viel passieren kann und man besonders vorsichtig sein muss.

Woher jetzt der Begriff Raunacht genau stammt, steht wohl nicht ganz fest. Entweder kommt es von Rauch, da zur Abwehr von Geistern rituelle Räucherungen von Häusern und Ställen vorgenommen wurden. Oder von Haarig, was auf die haarigen Dämonen schließen lässt, die sich besonders in den Raunächten herumtreiben sollen.

Das Besondere an diesen toten Tagen ist aber, dass in dieser Zeit die Grenze zu anderen Welten offenstehen sollen, weshalb allerlei los sein kann. Menschen verwandeln sich in Werwölfe und die Seelen der Verstorbenen haben Ausgang.  

Seit jeher werden die Raunächte daher zur Geisterbeschwörung genutzt und ich habe mich entschlossen, in einer dieser Raunächte den Leipziger Orbit zu fahren und den alten Geist der Ultra-Fahrten zu beschwören.

Der Leipziger Orbit ist ein schneller Orbit und eigentlich nur 190 km lang. Aber durch ein paar Baustellen und Passagen, die zu dieser Jahreszeit schlecht passierbar sind, wurde die Strecke etwas länger. Danke an Stephan für die Anpassung des Tracks.

Leider schlugen die Dämonen schon nach ca. 25km das erste Mal zu und führten mich in eine Sackgasse: Eine Brücke über eine Schnellstraße war komplett gesperrt, weshalb ich mehrere Kilometer Umweg fahren musste.

Die Nacht war feucht, dicker Nebel und leichter Spray-Regen waren ständige Begleiter. Und die Nacht war pechschwarz. Das bekam ich zu spüren, als ich das Reich der See-Geister im Niemandsland hinter Benndorf am Großen Goitschesee betrat. Inmitten der Landschaft fiel auf einmal mein Licht aus und ich stand im Dunkeln. Und es war tatsächlich finster.

Kein Licht, nirgends. Schnell bremste ich und schaltete meine Stirnlampe ein. Komischerweise ließ sich das Licht nicht mehr anschalten, egal was ich versuchte. Also fuhr ich mit Stirnlampe weiter, was aber angesichts des Nebel-Niesel etwas anstrengend war, denn die feinen Tröpfchen reflektierten das Licht und ich konnte nicht so gut sehen. Und da konnte ich sie lachen hören, die Geister um mich herum.

Ich verließ ihr Reich bei Bitterfeld-Wolfen und fuhr in das nächste Dämonen-Gebiet: die Oranienburger Heide. Plötzlich funktionierte das Licht wieder und wie aus dem Nichts leuchtete das Fernlicht die sandigen Trails und Nadelbäume aus. War es vorher absolut finster gewesen, war es hier nun absolut still. Kein Ton, kein Geräusch eines Tieres, kein Vogellaut. Nichts. Nur mein Atmen und das leichte Rascheln meiner Jacke.

Schnell weiter: Ich fuhr über Gräfenhainichen nach Oranienburg und so langsam dämmerte der Morgen. Die Landschaft gewann an Kontur und erhob sich aus dem blau-gräulichen Dunst. War der Spuk damit vorbei?

Glaubt man den Legenden, so soll man in den Raunächten keine Wäsche raushängen, denn in dieser verfangen sich die Geister und Seelen und Wäscheleinen behindern die Dämonen in ihrer wilden Jagd. Tiere sollen in diesen Nächten mit menschlicher Stimme sprechen und die Zukunft vorhersagen können. Und auch das Haus muss aufgeräumt sein, auf kreisende Bewegungen und das Reisen sollte nach Möglichkeit verzichtet werden.

Na prima, da machte ich ja alles falsch. Etwas mehr als 100 km und um die 5 Stunden war ich bis dahin in der Raunacht unterwegs. Und mit dem Tagesanbruch sollte alles vorbei sein. Oder spielten die Geister mir weiter Streiche?

Ja, denn auf einmal tat mir mein Knie weh. Das hatte ich lange nicht. Lag es an der kalten Feuchtigkeit und die Dämonen attackierten meine Gelenke? An der Belastung konnte es eigentlich nicht liegen. Wenn man Ultra-Distanzen fährt, dann kennt man Schmerzen und Beschwerden. Und meist hilft es, einfach weiterzumachen und irgendwann gehen die Beschwerden von allein weg – und neue kommen.

Und so war es auch hier: nach einiger Zeit ließ der Schmerz nach. Auch diese Prüfung schien ich überstanden zu haben. Aber wenig später stellte fest, dass die Schmerzen wiederkamen und vom Fahren im Aero-Lenker herrührten. Die Belastung bzw. der Haltungswinkel führten zu Schmerzen im Knie. Komisch, denn das war sonst nie ein Problem. Lag es an der Federgabel, die vielleicht die Sitzgeometrie verändert hat? Oder doch ein Streich der Raunacht?

Es waren nur noch 70km bis Leipzig. Bis dahin sollte ich es auch mit schmerzendem Knie schaffen. Doch dann betrat ich das nächste Geister-Reich: die Dübener Heide. Sandige Wege, dichte Wälder und hier und da grüßten Lost Places aus dem Nebel.

Eigentlich wunderschön, wenn nicht auf einmal die Geister wieder am Werk gewesen wären und mir nach und nach die Kraft entzogen. Es war, als ob man an meinem Stecker wackelt, ihn aber noch nicht zieht.

Ich hatte mit 4 Litern genug zu Trinken dabei und auch ausreichend Essen und Gels. Was ich aber unterschätzt hatte war, dass in dieser Raunacht feiertagsbedingt natürlich nichts offen hatte und ich auch nicht an Tankstellen vorbeikam. Ich habe regelmäßig getrunken und gegessen, aber kaum eine Pause gemacht. Eigentlich keine Pause. Als die Trinkblase leer war, hatte ich noch zwei Flaschen, die aber völlig verdreckt waren und das Wasser in ihnen sehr kalt. So habe ich vermutlich das Trinken vernachlässigt, was bei diesen Witterungen auch schnell passiert. Und auch beim Essen habe ich mich dann auf Gels verlegt, um schnell Energie zu bekommen. Aber versucht ihr mal gegen Geister und Dämonen mit kaltem Wasser und Gels anzukämpfen!

Und so erreichte ich dann mit reduzierter Kraft Leipzig und rollte die letzten Kilometer zum Ausgangspunkt des Orbits.

Bei schönem Wetter ist das tatsächlich eine schnelle und wunderschöne Strecke. Doch in den Raunächten wird der Orbit zur mystischen Herausforderung.

Aber wenigstens sind mir die Werwölfe erspart geblieben, die es in den toten Tagen besonders oft geben soll…

Join the Conversation

6 Comments

Leave a comment

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.

  1. says: Hilmar

    Witziger Artikel, Martin. Vor allem finde ich es aber zugleich mutig wie inspirierend, was Du da an diesen doch sehr dunklen Tagen durchgemacht hast! Eigentlich wünscht man sich ja, bei der Familie zu sein (wenn der Lagerkoller nicht überhand nimmt…); dass Du Dich dann trotzdem motiviert hast, das zu beginnen und durchzuziehen, ist schon ein starker Sieg über die Schweinehunddämonen…

    Um wie viel Uhr bist Du losgeradelt?

    Viele Grüße
    Hilmar