Reiseradler-Interview #29: Karen Wichert von diezweiunterwegs.de

Karen mit ihrem "Kleinen Schwarzen" © Karen Wichert

Wie so oft heutzutage, lernte ich Karen im Internet kennen. Sie ist wie ich in einer der zahlreichen Facebook-Gruppen, die sich mit Radreisen und Fahrradfahren beschäftigen. Auf der Radreisen Messe in Hamburg haben wir uns dann zum ersten Mal in Echt gesehen. Sie war dort als Reiseradlerin, die den Besuchern der Messe von ihren Erlebnissen und Erfahrungen erzählte. Und erzählen kann sie wirklich. Mit ihrer Art begeistert sie ihre Zuhörer und lässt sie mitreisen.

Karen auf der Radreisen Messe in Hamburg
Karen auf der Radreisen Messe in Hamburg

Daher übergebe ich noch in meinem Vorwort gleich mal an sie: „Lieber Martin, deine Reiseradler-Interviews sind eine geniale Idee. Wenn mich jemand für verrückt hält, sage ich: `Schaue bei biketour-global.de nach, es gibt noch mehr verrückte Radfahrer.´ In meinem Leben habe ich wirklich einiges ver-rückt. Genau deshalb möchte ich nicht, wie die meisten Frauen, am liebsten viele Jahre jünger sein. Auch wenn es schon 36 Jahre her ist, dass ich 18 war. Vor 14 Jahren ging es mir richtig schlecht. Dank Krankheit kam ich zum Rad fahren. Nicht dass ich zum ersten Mal auf einem Drahtesel saß. Doch viele Jahre war Ruhe. Mein Bruder brachte mir das Radeln bei. Unsere erste gemeinsame Tour brach er nach einem Kilometer ab mit den Worten: `Es hat noch keinen Zweck mit dir.´ Ich war einem Mann über den Fuß gefahren. Nach zwei Tagen schlug die Kränkung in Ehrgeiz um. Mit 12 kaufte ich mir das erste eigene Rad. Marke Diamant, viel zu schwer und groß für mich. Ich war unglaublich stolz und radelte von nun an zur Schule und im Sommer mit meiner Freundin zum 16 km entfernten Badesee. Irgendwann stieg ich aufs Auto um. Es war der Anfang einer unheilvollen Zeit. Schließlich nahm alles ein gutes Ende, wie die Antworten auf deine Fragen beweisen.“

 

Zum Warmwerden: Wie bist Du zum Radreisen gekommen?

Weil ich krank war. Ich hatte wahnsinnige Schmerzen im rechten Fuß. Die Diagnose: Arthrose. Die Prognose: Der linke Fuß sieht auch nicht gut aus, und bei schlechtem Krankheitsverlauf werde ich in 10 Jahren wahrscheinlich im Rollstuhl landen. Heute, nach 14 Jahren, sage ich: kein Wunder. Ich war zu dick. Ich vermied Bewegung. Ich ernährte mich überwiegend von Fast-Food. Also entstaubte ich nicht nur mein altes Rad, ich fuhr auch damit. Ich stellte das Essen um und nahm ab. Ich verscherbelte mein Auto und kaufte ein neues Trekkingrad. Ich fand immer mehr Gefallen an dieser (Fort)-Bewegung, dass ich 2009 mit meinem Mann und Radfahrkomplizen Werner in drei Wochen 1500 km radelte. Für mich eine enorme Leistung. Seitdem bin ich infiziert vom Radfahr-Virus. Und gesund.

Karen und Werner © Karen Wichert
Karen und Werner © Karen Wichert

Übrigens fuhr ich 10 Jahre nach dieser niederschmetternden Prognose nicht im Rollstuhl zum Arzt, sondern in Serbien mit meinem Rad voller schwerer Taschen durch die Karpatenausläufer im Donaudurchbruch.

 

Zum Träumen: Wo warst Du schon überall und wo musst Du unbedingt noch hin?

Die erste Tour 2009 ging von Wismar zum Oder-Neiße-Radweg bei Pasewalk. Die Mecklenburger Hügel sind für Anfänger nicht zu unterschätzen. Ich klopfte mir jeden Abend selbst auf die Schulter. Wir kurbelten bis Görlitz und wieder nach Hause zur Ostsee. Seitdem waren wir jedes Jahr mit unseren Trekkingrucksäcken oder Rädern unterwegs. Mit Werner war ich in Frankreich, wir kurbelten von Wien nach Rumänien zum Donau-Delta. Wir nahmen Lettland, Litauen, Russland (Oblast Kaliningrad), Polen und Dänemark unter die Reifen. 2011 traute ich mich zum ersten Mal allein zu meinen Eltern. Nur gut 200 km und es fühlte sich gut an. 2013 kratzte ich meine Ersparnisse für ein Reiserad zusammen und rollte allein los: in die Vogesen und ein Jahr später durch die Niederlande, Belgien, Frankreich und England.

An der White Cliffs in Großbritannien © Karen Wichert
An der White Cliffs in Großbritannien © Karen Wichert

Ja, wo will ich noch hin? Auf jeden Fall nach Nordamerika. (Die Route 66 kurbeln und den Harley-Fahrern winken – diese Tour ist in Sack und Tüten.) Meinem Radfahrkomplizen möchte ich England zeigen. Der Baikalsee und Asien stehen auf meiner Liste. Und Europa kreuz und quer natürlich.

Zum Nachmachen: Welches Land kannst Du empfehlen und warum?

Unbedingt Rumänien. Die Menschen schämten sich für die katastrophalen Zustände in ihrer Heimat, wie z.B. Korruption und Armut. Sie waren beeindruckt, dass wir uns trotzdem für ihr Land am Rande Europas, wie sie es ausdrückten, interessierten. Zu Hause hatte man uns vor Diebstahl und schlechten Wegen gewarnt. Klar, die Straßen waren manchmal löchrig wie ein Schweizer Käse. Wir fühlten uns sicher und niemand beklaute uns. Im Gegenteil: Man schenkte uns Obst und Gemüse.

 

Zum Erfahren: Was hat Dich am meisten unterwegs beeindruckt?

Dass man sich auf die Hilfsbereitschaft fremder Menschen verlassen kann.

In Litauen, ca. 30 km vor Kaunas, war weder ein Campingplatz noch ein verschwiegenes Plätzchen für unser Zelt zu finden. Wir bogen auf ein großes Grundstück ab und baten um eine Zelt-Wiese. Ungefragt wurden wir, weil ein Gewitter aufzog, von der netten Zahnarzt-Familie in das noble Gästehaus verfrachtet. (Sie entschuldigten sich, dass nicht frisch geputzt war.) Am nächsten Morgen mussten die Patienten warten, denn der Arzt wollte sich unbedingt von seinen deutschen Gästen verabschieden.

Mit Polizei in Vreden © Karen Wichert
Mit Polizei in Vreden © Karen Wichert

Oder in Vreden im Münsterland. Ich war allein unterwegs. Ein Polizist sprach mich an. Nicht dass ich mich im Straßenverkehr daneben benahm. Der war nur neugierig. Als er hörte, dass ich auf dem Rückweg von England bin, bewachte er mein Fahrrad. Ich konnte in aller Ruhe beim Bäcker meinen Bärenhunger stillen.

 

Zum Leben: Bist Du lieber alleine unterwegs, oder zu zweit? Und warum?

Schwer zu beantworten. Zu zweit hilft man sich gegenseitig und tauscht die Erlebnisse aus, muss sich aber anpassen. Was mit meinem Radfahrkomplizen auch bei längeren Reisen prima klappt.

In Arnheim © Karen Wichert
In Arnheim © Karen Wichert

Allein? Niemand gibt mir Windschatten. Niemand warnt mich vor Gefahren. Niemand besorgt Essen. Doch ich bin sehr gern für alles selbst zuständig und genieße meine Freiheit. Ich bestimme die Route, das Tempo und mit wem ich meine Zeit teile. Unterwegs traf ich mehrmals nette Radler, mit denen ich ein paar Tage unterwegs war. Völlig in Ordnung. Aber dann rollte ich wieder sehr gern allein weiter.

 

Zum Fahrrad: Stell es uns bitte mal kurz vor: Welche Komponenten sind an Deinem Rad dran?

Seit 2013 fahre ich ein 26“-Reiserad. Ich bin klein und musste lange suchen. Schließlich fand ich einen passenden Stahlrahmen mit starrer Gabel bei Hardo Wagner.

Das Hardo Wagner in Essex St.Osyth © Karen Wichert
Das Hardo Wagner in Essex St.Osyth © Karen Wichert

Ich ließ das Rad nach meinen Wünschen aufbauen: Regida-Andra-Felgen, Schwalbe-Reifen 50 mm, AVID V-Brakes, SON-Nabendynamo (mit E-Werk von Busch+Müller zum Laden eines Pufferakkus), Rohloff-Schaltung, SQlab-Sattel, Träger und Lowrider von Tubus. Am besten rollt es mit den gut gefüllten wasserdichten Ortliebs.

Dieses Rad ist genial. Ich nenne es mein „Kleines Schwarzes“. Bei den meisten Frauen hängt das „Kleine Schwarze“ im Schrank. Bei mir steht es in der Garage – statt Auto. Meine Räder sind mein Auto.

 

Zum Mitfühlen: Gab es Pannen unterwegs und falls ja, welche?

An einem Tag hatte ich zwei Mal Pech. Vormittags schnitt ich mir den vorderen Reifen auf. Neuer Schlauch rein und fertig. Nachmittags stand ich mit plattem Hinterrad in Kassel an der Fulda. Plötzlich feuerte Torsten sein Rad neben mir ins Gras und rief: „Mädel, ick helf dir!“ In Windeseile war der Schlauch verarztet und das Rad eingebaut. Er beäugte kritisch den lädierten vorderen Reifen und brachte mich zu seinem persönlichen Mechaniker. Vorher rief er seine Frau an, die sich um die Kinder kümmern musste. Mit neuem Reifen kurbelte ich nach einer Stunde weiter.

Schnelle Unterstützung dank Torsten © Karen Wichert
Schnelle Unterstützung dank Torsten © Karen Wichert

In den Niederlanden streikte die Rohloff-Schaltung. Morgens um 9 stand ich vor einem Radgeschäft – geschlossen. Klar, die schlafen sich montags immer aus. Ein anderer Radler kam mir zu Hilfe. Wir schraubten den Drehgriff ab, der nicht einrastete. Nichts zu finden. Dann entdeckten wir den Übeltäter: Die Schaltbox hing traurig am Schaltzug. Gemeinsam setzten wir sie auf. Als ich das Werkzeug einpackte, schaute der Mechaniker verschlafen aus der Tür. Zu spät.

Unerwartete Rohloff Hilfe © Karen Wichert
Unerwartete Rohloff Hilfe © Karen Wichert

In England setzte ich mit einer Minifähre zur Insel Mersea über. Zwei Männer hievten mein Rad in die Fähre und stellten es mir an den Insel-Strand. War sehr nett, aber am liebsten baue ich die Taschen ab und trage mein Rad selbst. Nach dieser Aktion war der Sattel einseitig ausgehebelt, zum Glück nichts gebrochen. Mein Hintern und der schiefe Sattel – sie vertrugen sich Gott sei Dank weiterhin. Der gute SQlab hielt trotzdem noch lange durch.

 

Zum Wissen: Dein ultimativer Tipp für das Reisen mit dem Fahrrad?

Am gefährlichsten ist es nach meiner Erfahrung vor der Haustür. Mit 14 km auf dem Tacho stürzte ich im Januar 2015 schwer. Ich trug einen Helm. Nur deshalb kam ich mit einer Augenverletzung (mit dauerhafter Beeinträchtigung) davon. Auch die linke Schulter war gebrochen. Nach 7 Wochen stieg ich wieder auf mein geliebtes Stahlross.

Meine Empfehlung: Losfahren und sich auf Wunder verlassen. Am besten ganz weit weg. Das wichtigste Körperteil schützen kann nicht schaden: mir hat der Helm vielleicht sogar das Leben gerettet. Nach einem Crash so schnell es geht in den Sattel. Sonst kommt die Angst vor der Angst.

 

Zum Nachdenken: Was ist schwerer: Losfahren oder Wiederkommen?

Wiederkommen. Ich empfand nach Hause kommen bisher als abrupten Abbruch meiner Lieblingsbeschäftigung. Plötzlich hockte ich den ganzen Tag ohne Bewegung in geschlossenen Räumen und die Freiheit war dahin. Nun ist meine Mutter sehr krank. Deshalb wird bei der nächsten großen Reise das Losfahren zur größeren Herausforderung.

Einfach losfahren! © Karen Wichert
Einfach losfahren! © Karen Wichert

Zum Abschluss: Was ist als nächstes geplant?

Zusammen mit meinem Radfahrkomplizen nach Paris kurbeln.  Von dort geht Ende Juli unser Flieger nach Quebec. Im nächsten Winter wollen wir in Kalifornien sein. Die Richtung ist klar, das reicht. Flexibel sein ist uns lieber als ausgefeilte Planung. Im Sommer 2017 müssen wir zurück sein. Wie wir das anstellen, wird uns unterwegs schon einfallen. Die Welt ist groß und wir lassen uns überraschen. Wir wollen reisen und nicht rasen. Vermutlich wird Werner am ersten Arbeitstag gleich wieder ein Sabbatjahr beantragen.

Hier noch am Oosterschelde-Sturmflutwehr in Holland. Und bald in der großen weiten Welt © Karen Wichert
Hier noch am Oosterschelde-Sturmflutwehr in Holland. Und bald in der großen weiten Welt © Karen Wichert

Mehr über Karen und ihre Touren gibt es hier:

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