Plädoyer für den lustvollen Kontrollverlust unterwegs

Im Blog „Off the Path“ von Sebastian habe ich einen Beitrag von Anne gelesen, indem sie unter dem Titel „Die internationale Komfortzone“ beschreibt, wie „wir“ durch ferne und fremde Länder reisen, uns aber dort immer wieder, fast automatisch doch die Nähe der „Gruppe der Reisenden“, der anderen reisenden Ausländer suchen. Und dabei eigentlich die Chance verpassen, uns richtig dem Land und den Menschen dort auszusetzen.

Ich zitiere mal Anna, die es schön formuliert hat:

„Sind wir vielleicht auch einfach viel zu faul, oder sogar Kultur-müde, um uns wieder neu einer Kultur zu öffnen? Letztendlich liegt es ja immer noch an jedem Einzelnen von uns. Vielleicht sollten wir häufiger einfach mal alleine losziehen und schauen was das Land so bringt, anstatt der Masse zu folgen und in der Gruppe der geliebten ‚Internationals’ zu bleiben.“ 

Vielleicht interpretiere ich das auch anders, als es von Anne gedacht ist, aber sie spricht einen für mich interessanten Punkt an, bzw hat sie mich zu folgendem Beitrag inspiriert: 

Seit mehr als 10 Jahren reise ich alleine. Das war anfangs sicherlich eine Umgewöhnung, aber ich bin was das angeht Überzeugungstäter. Denn alleine lasse ich mich mehr ein auf das jeweilige Land und die Menschen dort. Alleine bin ich auch gezwungen das zu tun. Es ist nicht negativ gemeint, sondern es ist ein außer meiner Sicht absolut toller und wertvoller Effekt dieses “Alleinreisens”, denn so komme ich unmittelbar in Kontakt mit dem Leben der Menschen vor Ort.

ruanda boys

Draußen sein, unterwegs sein, fremde Länder und Kulturen erfahren – das klingt alles schön, ist aber manchmal auch nur auf „die Natur“ bezogen. Ich habe häufiger gehört: Oh, das möchte ich auch mal machen, aber so alleine durch Afrika reisen – hmm, das wäre schwierig. Heißt auch, es ist nicht für jeden einfach dann konsequenterweise auch den Menschen vor Ort „ausgeliefert“ zu sein. Ohne Kontrolle der Situation vielleicht. Mit ihnen leben zu können. Unmittelbar, echt, mit allen Konsequenzen. Das ist nicht immer einfach, aber bringt unvergessliche Erlebnisse. Manchmal ist es aber auch belastend und nervig. (Word!).

Dennoch, dieser „lustvolle Kontrollverlust“, den ich als Grundvoraussetzung für das Entdecken und Erleben fremder Länder und Kulturen ansehe, fällt nicht allen leicht. Früher habe ich nicht mal Reiseführer studiert, bevor ich ein Land befahren habe. Ich wollte alle Erfahrungen selber machen und nicht vorgeprägt sein, durch Tipps, Empfehlungen und Hinweise der Menschen, die vor mir dort waren. Das ist heute teilweise immer noch so. Mittlerweile ist ja fast jeder Quadratzentimeter der Welt bereist, fotografiert, erlebt und erschlossen – spätestens jetzt müssten wir doch anfangen uns neu und unvoreingenommen (soweit das überhaupt möglich ist) dem scheinbar Bekannten nähern zu können.

afrika menschen

Abenteuer und Erlebnis ist doch vor allem das, was dazwischen kommt, einfach passiert, was wir nicht kontrollieren können. Wir bereiten uns auf Fernreisen wie blöde vor, lesen Bücher, versuchen in Foren alles Wichtige und Unwichtige zu erfahren, holen uns Tipps ein, versuchen durch unsere Ausrüstung schon ein Gefühl der Sicherheit mitzunehmen, damit uns ja nichts passieren kann. Nichts Unkontrollierbares oder Unvorhersehbares. Aber genau DAS ist es doch, was Reisen (aus meiner Sicht) ausmacht. Dieses Unbekannte erleben, überraschenden Situationen begegnen, das Neue zu erfahren. Was sollte man denn sonst auch erzählen? Das ich – wie geplant von A nach B gefahren bin, gesehen habe, was ich bereits wusste zu sehen, erfahren habe, was ich bereits dachte zu erfahren? Das ist doch lame! 😉

(Ich meine natürlich nicht alle Unglückssituationen – darauf kann auch ich verzichten und um die geht es hier nicht!)

Annas Beitrag hat mich an meine Reise durch Ruanda und Uganda erinnert, bei der ich sogar noch eine „interessante“ Weiterentwicklung der „Internationalen Komfortzone” erkennen konnte:

Dank Lonely Planet wissen wir ja nun, wo sich in fast jedem Land die Globetrotter Hotspots befinden. Also meist Hostels oder Camp Grounds, in denen man andere Reisende trifft. Und nur die. Und das ist auch ok, denn manchmal braucht man halt auch den Kontakt zu „seinesgleichen“, meint Reisenden. Zum Erfahrungsaustausch, zum Quatschen, Tipps geben und einholen, was die nächsten Routenabschnitte angeht, zum Kontakte knüpfen.

In Kampala bin ich bewusst einen solchen Hotspot angefahren. Einen Campingplatz vor der Stadt, wo sich die Reisenden treffen und wohnen. Nach einigen Tagen allein auf dem Rad wollte ich auch mal wieder Kontakt zu Gleichgesinnten haben, mich über Möglichkeiten und Ziele der mir verbleibenden Tage informieren und inspirieren lassen.

Und was musste ich sehen? In Erwartung neuer Kontakte und des ein oder anderen Bier im Gespräch mit anderen betrat ich den „Aufenthaltsraum“. Der war gut gefüllt, aber auch sehr ruhig. Denn ALLE (und es waren ca 30 Leute dort) saßen mit ihren Laptops da und unterhielten sich nicht, sondern waren mit ihrer digitalen Heimat beschäftigt: im Web surfen, chatten, Video schauen, skypen (laaaaange skypen) etc. Das hörte auch nicht auf, sondern änderte sich nicht. Ein einziger Gast schien ebenfalls verwundert über diese skurrile Situation zu sein: ein tschechischer Motorradfahrer, der auf dem Weg von Prag nach Sambia Station machte. Mit ihm kam ich dann auch schnell ins Gespräch, vermutlich da uns kein Laptop trennte. Und es wurden dann die erhofften Bier und Gespräche.

Die gleiche Situation (teilweise mit exakt den gleichen Leuten) erlebte ich dann Tage später in Entebbe, als ich nach dem Besuch des Weißen Nils vor meinem Flug noch einmal in einem solchen Globetrotter-Hostel übernachtete. Wieder alle vor ihren Laptops. Keine Gespräche, kein Interesse für den anderen. Versunken in ihrer digitalen Heimat.

sonne

Und das ist für mich die Evolution der von Anna gebloggten Beobachtung, die dazu führt, dass wir lieber unter uns „Reisenden“ bleiben wollen UND am liebsten sogar auch unterwegs digital unter uns bleiben.

Ich fände es schade, wenn es so ist und so bleibt. Ich kann aber auch nur meine punktuellen Erlebnisse beschreiben.

Was ist mit Euch? Wie seht ihr das? Habt ihr ähnliche Erfahrungen gemacht? Oder seht ihr das anders als ich?

Ich freue mich über eine Diskussion – aber nur wenn ihr nicht gerade an einem spannenden und fernen Ort vor einem Laptop sitzt, anstatt raus zu gehen und Euch zu unterhalten und die Menschen vor Ort zu erleben und zu entdecken 😉

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3 Comments

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  1. Die Frage ist immer, was genau ich will. Ich hatte bisher immer nur wenige Urlaubswochen Zeit um längere Touren zu machen. Und ich glaube nicht, dass ich in dieser Zeit eine andere Kultur wirklich kennenlernen kann. Trotzdem sauge ich die fremden Reize in mich ein und mache mir meine Gedanken über alles was anders ist als zuhause. Ich möchte aber auch nicht, dass sich andere Menschen von mir quasi “besichtigt” fühlen wie Zootiere. Deswegen bin ich eher der Typ, der sich diskret zurück hält. Da ich auch in der Regel allein reise, suche ich hin und wieder auch Kontakte zu anderen Radreisenden, habe aber die Erfahrung gemacht, dass diese, sofern es sich um Paare handelt, meist hinreichend mit sich selbst beschäftigt sind und männlichen Singles eher misstrauisch gegenüber stehen. Mit warmshowers.org habe ich aber in diesem Jahr in Frankreich gut Erfharungen gemacht: Ich komme ins Gespräch, erfahre alles,was ich wissen will und kann bequem meine Akkus aufladen 😉

    1. says: BiketourGlobal

      Hallo Felix,
      Dieses Verhalten habe ich bei Pärchen, die ich unterwegs traf, auch festgestellt.
      Ansonsten mache ich das wie Du und bin da auch eher zurückhaltend. Viele Grüße, Martin

  2. says: CC2013

    Hallo Martin,

    du hast es da voll auf den Punkt gebracht. Ich sehe das sehr ähnlich (auch wenn wir immer zu zweit unterwegs sind). Viele reisende reisen scheinbar nur um sich in der Gesellschaft der Reisenden zu bewegen. Da tauscht man Abenteuergeschichten aus und jeder ist “krasser” als der andere. Dabei sind die Settings doch sehr ähnlich – ob Wien, Istanbul oder Chengdu – und man trifft immer ähnliche Typen.
    Wir haben es uns daher zur Gewohnheit gemacht Orte die im Lonely Planet besonders betont werden zu umfahren. Die Umgebung ist meist ohnehin genauso schön und sehenswert, aber halt frei von Mainstream-Backpackern, die abends aus dem Riesenrucksack das Discooutfit ziehen.
    Grüße

    Sebastian